Die fünfte Säule: Achtsame Präsenz
Die Polarity Therapie ruht auf fünf Grundpfeilern: Körperarbeit, Ernährung, Bewegung, Gespräch – und als fünfte, oft stillste Säule: die achtsame Präsenz. Sie ist das Fundament, auf dem alle anderen Elemente zur Wirkung kommen. Ohne präsente innere Haltung bleibt selbst die feinste Technik oberflächlich. Achtsame Präsenz ist mehr als Methodik – sie ist die Haltung, aus der echte Verbindung entsteht. Sie bedeutet:
- Im Hier und Jetzt sein
- Offen und nicht-wertend wahrnehmen
- Mitfühlend anwesend bleiben
- Auch im Nichtwissen vertrauen – auf Selbstregulation, auf Stille
Achtsame Präsenz ist kein Zustand, den man „hat“. Sie ist eine Praxis. Eine ständige Einladung, uns als Therapeut:innen immer wieder neu zu zentrieren, zu lauschen – Raum zu halten, ohne zu drängen.
Philosophische Wurzeln: Samkhya, Zeugenbewusstsein & das Lebenswerk von Dr. Stone
Die Tiefe der Polarity Therapie verdankt sich nicht nur ihrer praktischen Vielfalt, sondern vor allem dem geistigen Fundament, auf das sie sich stützt. Dr. Randolph Stone (1890–1981) – Chiropraktiker, Osteopath und Naturheilkundler – war ein Pionier, der nicht an den Grenzen westlicher Medizin haltmachte.
Er forschte jahrzehntelang an der Schnittstelle von Körper, Energie und Bewusstsein, reiste nach Indien und tauchte tief in die vedische Philosophie ein.
Besonders inspiriert war er vom Samkhya-System, einer der ältesten philosophischen Schulen Indiens. Dieses Weltbild ist die Grundlage vieler Yoga- und Ayurveda-Traditionen – und auch für Polarity zentral.
Was ist Samkhya?
Samkhya beschreibt die Wirklichkeit als ein Zusammenspiel zweier Grundprinzipien:
- Purusha – das reine Bewusstsein, das stille Beobachtende, das „Zeugenbewusstsein“
- Prakriti – die Urmaterie, aus der alle Erscheinungen entstehen: Körper, Emotionen, Gedanken, Natur, Energie
Alles, was wir erleben, ist ein Ausdruck von Prakriti – das, was sich bewegt und verändert.
Purusha hingegen ist der ruhende Pol: bewusst, unberührt, klar. In jedem Menschen existiert beides.
Dr. Stone erkannte:
Gesundheit und innere Ordnung entstehen dann, wenn der Mensch mit seiner inneren Stille – dem Zeugen in sich – wieder in Verbindung kommt.
Die achtsame Präsenz des/der Therapeut:in ist dabei nicht nur Methode, sondern Spiegel dieses Prinzips.
Achtsame Präsenz als verkörpertes Samkhya-Prinzip
Wenn wir als Therapeut:innen präsent sind, verkörpern wir das Prinzip des Purusha:
Wir beobachten mit Klarheit, ohne zu manipulieren. Wir schaffen einen Raum, in dem sich das Lebendige (Prakriti) von selbst neu ordnen kann.
Diese Haltung spiegelt sich direkt in der therapeutischen Präsenz:
- Nicht eingreifen, sondern begleiten
- Nicht wissen wollen, sondern wahrnehmen
- Nicht bewerten, sondern halten
So wird die Praxis zur Philosophie in Aktion. Und der Körper – als Ausdruck von Prakriti – kann sich neu organisieren, weil er sich gesehen und getragen fühlt von einer Präsenz, die nicht kontrolliert.
Präsenz in der Praxis: Der stille Raum, der trägt
Wenn wir als Therapeut:innen wirklich präsent sind, geschieht oft mehr, als Worte oder Techniken erklären können:
- Klient:innen fühlen sich gesehen, gehört, gehalten
- Der Körper beginnt sich selbst zu regulieren
- Vertrauen entsteht – und mit ihm innerer Wandel
Präsenz ist dabei nicht passiv. Sie ist ein bewusster Zustand, der Klarheit, Mitgefühl und Resonanz in sich vereint. Sie schafft den Raum, in dem Heilung geschehen kann.
Abschliessender Gedanke
Achtsame Präsenz ist keine Technik – sie ist die stille Kraft, die alles durchdringt.
Vielleicht ist es gerade dieses einfache, wache Dasein, das den tiefsten Wandel ermöglicht.
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